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Interview: Medusa wurde für ihre Sexualität bestraft

Ein Gespräch mit Regisseurin Anita Rocha Da Silveira

© Best Friend Forever


Mit MEDUSA erweist sich Regisseurin Anita Rocha da Silveira als lautstarke und feministische Stimme des zeitgenössischen brasilianischen Kinos. Im folgenden Interview erläutert die Regisseurin, was ihr Film mit realen Ereignissen in Brasilien zu tun hat und verrät, welche Regisseur:innen sie am meisten inspiriert haben.



Wie sind Sie auf den Film gekommen? Trotz seiner sehr poppigen Ästhetik wirkt seine Atmosphäre wie eine dunkle Utopie. Ist der Film komplett fiktiv oder von wahren Ereignissen inspiriert?


Im Jahr 2015 tauchten im Internet Bilder und Videos einer jungen paramilitärischen Gruppe auf. Es waren junge Männer in Uniformen, die vor einem Altar salutierten, Kommandoworte schrien und sagten, dass sie für den Kampf des Herrn bereit seien - sie nannten sich selbst die Gladiatoren. In den letzten Jahren erlebten wir ein deutliches Wachstum der evangelikalen Fraktion im brasilianischen Kongress sowie die Entstehung neuer Influencer: junge Youtuber, die charismatisch sind und das Internet nutzen, um einen ultrakonservativen Lebensstil zu verteidigen - wie etwa ein junger Journalist, dessen Motto "Ich kämpfe gegen das Ende des Feminismus" lautete.


Wir hatten auch die Parlamentswahlen 2018 hinter uns, die von Hass und Fehlinformationen überschattet waren, die meist über WhatsApp-Gruppen verbreitet wurden. Ein Teil der Bevölkerung war entsetzt über Fake News, in denen es um angebliche "Babyflaschen in Penisform" und "Schwulen-Kits" ging, die angeblich von Linken verteilt wurden, um "kleine Kinder in einen schwulen Lebensstil zu indoktrinieren". Genau wie bei der Q-Anon-Theorie geht es hier um den "Schutz der Kinder". Aber vor wem?


Was mich jedoch wirklich bewegte, war die Tatsache, dass ein Teil der brasilianischen Gesellschaft für die Rückkehr der sittsamen Frau eintrat - einer Frau, die ihrem Mann treu ergeben ist - sowie mehrere Berichte in den Nachrichten über gewalttätige Übergriffe auf Mädchen im Teenageralter, die von anderen Mädchen ausgeführt wurden, die in einer Gruppe angriffen, in den meisten Fällen, weil sie das Opfer promiskuitiv hielten.

Manchmal wurden den Opfern die Haare abgeschnitten und das Gesicht aufgeschlitzt, um die Opfer "hässlich" aussehen zu lassen. Die Gründe für solche Gewalttaten reichten von der Meinung, die Opfer seien "zu schön", über "Anmachen" eines Freundes einer der Angreiferinnen bis hin zum "Auftrumpfen" mit aufreizender Kleidung, "zu viele Likes" auf ihren Instagram-Bildern zu bekommen oder als "leichtgläubig" oder "nuttig" wahrgenommen zu werden - alles in einer Welt, in der soziale Netzwerke zum wichtigsten Überwachungsinstrument geworden sind. Gewalt gegen Frauen - oft als eine Form der Kontrolle eingesetzt - wird in unserer Gesellschaft ständig wiederholt und ist bis heute ein Thema, über das wir nicht viel sprechen, da es uns herausfordert, darüber nachzudenken, wie die Motoren des Machismo auch in uns selbst funktionieren.


Was waren ihre Motive, den Mythos Medusa ins heutige Brasilien zu übertragen?


Als ich die Nachrichten über die jungen Frauen las, die sich versammelten, um eine andere Frau anzugreifen, musste ich sofort an Medusa denken. In der bekanntesten Version des Mythos wird Medusa als eine schöne Jungfrau beschrieben, eine Priesterin des Athenatempels. Doch eines Tages gab sie Poseidons Avancen nach und erzürnte damit Athene, die jungfräuliche Göttin, die Medusas schönes Haar in Schlangen verwandelte und ihr Gesicht so schrecklich aussehen ließ, dass jeder, der es nur ansah, zu Stein verwandelt wurde. Medusa wurde für ihre Sexualität bestraft, für ihr Begehren, dafür, dass sie nicht "rein" war.


Durch die Verbindung von Mythos und Realität kam mir der Gedanke, dass das Bestreben der Frauen, sich gegenseitig zu kontrollieren, auch im Laufe der Jahrhunderte zu den Grundlagen dieser Zivilisation gehörte. Und vielleicht ist es ein Weg für uns, die Kontrolle über uns selbst zu behalten. Schließlich werden wir mit der Angst erzogen, unseren Impulsen nachzugeben oder als "hysterisch" abgestempelt zu werden. Diese Kontrolle bezieht sich auch auf das Aussehen und die Schönheit, denn uns wird eingetrichtert, dass dies das wichtigste weibliche Attribut ist. Wir machen Diäten, um ein bestimmtes Gewicht zu erreichen, und unterziehen uns schmerzhaften ästhetischen Eingriffen, in der Hoffnung, für immer jung zu bleiben.


Indem sie sich von dem distanziert, was als Standardverhalten erwartet wird, findet Mariana ihren Weg zu einer besonderen Begegnung. Und diese Erfahrung wird, anstatt ihren Körper in Stein zu verwandeln, neue Empfindungen und Wünsche wecken.


© Best Friend Forever


Eines der auffälligsten Elemente ist, dass Familien und Eltern in dem Film überhaupt nicht vorkommen, und noch weniger der Glaube und die Weitergabe von religiösen Überzeugungen. Ist die brasilianische Jugend heute tief in der Religion verwurzelt? Was ist mit der Kirche, die Sie skizzieren? Basiert sie auf wahren Begebenheiten?


Brasilien ist ein sehr pluralistisches, vielfältiges Land, daher kann ich keine verallgemeinernden Aussagen über die Jugend machen. Aber ich stelle fest, dass die evangelikalen Kirchen eine gewisse Rolle spielen und sich um diese Kinder in Bereichen kümmern, in denen andere Kirchen und der Staat versagt haben. Die evangelischen Kirchen bieten nicht nur ein Gotteshaus, sondern auch Kurse und Selbsthilfegruppen für Jugendliche, Frauen, ältere Menschen und so weiter an. Wenn Menschen von ihren Familien entfremdet werden, sich einsam fühlen und manchmal in einer neuen Stadt leben, kann eine Kirche zu einem Ort der Unterstützung und des Zusammenhalts werden.


Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um darauf hinzuweisen, dass ich nicht beabsichtige, religiöse Äußerungen zu kritisieren, sondern vielmehr die Aufmerksamkeit auf bestimmte Gruppen zu lenken, die die biblischen Texte eigenartig auslegen und zum Aufbau eines intoleranten, sexistischen, homophoben und von Hass geprägten Umfelds beitragen. Heute geht es schnell, eine Lehre zu übernehmen und sie nach eigenem Gutdünken zu verwenden. Kein Wunder, dass in den letzten Jahrzehnten eine Fülle von Tempeln und Kirchen verschiedener christlicher Glaubensrichtungen entstanden ist, deren Reden und Dogmen sehr unterschiedlich sein können. Um die fiktive Kirche von Medusa zu erschaffen, habe ich umfangreiche Nachforschungen über dieses Universum angestellt - von der Organisation von Jugendgruppen bis hin zu den Predigten von Pfarrern, die alle von echten Predigten inspiriert sind.


Was sind die cineastischen Einflüsse, die Ihren Film geprägt haben?


Um Medusa zu kreieren, habe ich mich vor allem von Dario Argento inspirieren lassen, insbesondere von Suspiria (1977) und La Sindrome di Stendhal (1996) - wegen der unglaublichen Ästhetik und dem Engagement für ein Horrorgenre, das auf eine unbeschwerte Art und Weise voller Humor und kleiner Übertretungen umgesetzt wird.


Mulholland Drive (2001) und die Fernsehserie Twin Peaks (1990-91/2017) sind ebenfalls Referenzen für die Art und Weise, wie David Lynch genreübergreifend arbeitet und sich zuweilen des Humors bedient, um die Schwächen des begehrten amerikanischen Traums aufzudecken. Ebenso wie Get Out (2017) von Jordan Peele und seine hervorragende Mischung aus Horror, Humor und sozialem Kommentar.


Ich darf nicht vergessen, Claire Denis zu erwähnen, insbesondere Trouble Every Day (2001) und Beau Travail (1999), für die Art und Weise, wie die Regisseurin in der Lage ist, Körper in einem intensiven Zustand der Kontrolle und Sublimierung, aber auch der Unkontrollierbarkeit zu inszenieren, um sich schließlich den verborgenen Sehnsüchten hinzugeben. Und schließlich Carrie (1976) von Brian De Palma als eine der deutlichsten und schönsten Darstellungen dessen, was Unterdrückung und Erniedrigung mit Frauen anstellen können.


Sowohl “The Treasures of the Altar" als auch die “The Watchmen of Sion" pflegen in Ihrem Film einen hohen Schönheits-/Körperstandard, der ein wichtiger Teil ihrer Kultur zu sein scheint. Ist dies etwas, das der brasilianischen Gesellschaft/Jugend eigen ist?


In dem in Medusa geschaffenen Universum ist, wie die Figur Michele betont, "gutes Aussehen das A und O". Für die paramilitärische Gruppe junger Männer, "The Watchmen of Sion", gehören Training und Übungen zur Routine und Disziplin, der sie sich unterwerfen. Für die weibliche Jugendgruppe "The Treasures of the Altar" ist es wichtig, einem bestimmten, von der Gesellschaft vorgegebenen Schönheitsstandard zu entsprechen.


Aufgrund des systemischen Machismo und des Kolonialismus wird von den Mädchen erwartet, dass sie einen Standardkörper haben und immer "geschminkt" aussehen; dies ist ein wesentlicher Bestandteil, um in diesem Universum akzeptiert zu werden. Dazu gehört auch, dass sie sich die Haare glätten und immer Make-up tragen - allerdings in abgeschwächter Form. Zu Beginn des Films arbeitet Mariana in einer Schönheitsklinik, einem Ort, an dem die westlichen normativen Schönheitsstandards noch übertriebener sind. Und ihre Verwandlung beginnt genau mit dem Gedanken, wie sie aussieht.


Meiner Meinung nach hat der Kult um den perfekten Körper und bestimmte Schönheitsnormen jedoch in erster Linie mit einer Form der Kontrolle zu tun. Da von diesen jungen Menschen erwartet wird, dass sie ihr Begehren kontrollieren, beginnt die Ausübung der Kontrolle über ihren eigenen Körper und erstreckt sich auf die Körper der anderen.


Mari Oliveira hat bereits in MATE-ME POR FAVOR mitgespielt. Hatten Sie sie im Kopf, als Sie diesen Film geschrieben haben? Können Sie uns verraten, wie Sie diese jungen Schauspieler:innen zusammengestellt haben? Sind das alles professionelle Darsteller:innen?


Ja, ich hatte immer Mari Oliveira im Hinterkopf. Sie ist eine unglaubliche Schauspielerin, eine erstaunliche Person, und sie hat es geschafft, der Figur mehrere Schichten und Nuancen zu verleihen. Bei der Zusammenstellung der Besetzung hatte ich die Hilfe von Casting-Produzent Giovani Barros, und gemeinsam haben wir über die sozialen Medien ausgeschrieben. Wir erhielten über 600 Mappen und sprachen bei etwa 250 jungen Männern und Frauen vor. Einige von ihnen hatten bereits Erfahrung im Fernsehen und im Kino, wie Lara Tremouroux, Felipe Frazão und João Vithor Oliveira, aber die große Mehrheit der jungen Darsteller:innen bestand aus Student:innen der örtlichen Schauspielschulen, die mit Medusa ihren Durchbruch auf der großen Leinwand hatten.


© Best Friend Forever


Der Soundtrack des Films ist sehr zeitgemäß, sei es bei den religiösen Popsongs oder bei der allgemeinen Musikauswahl, die von R&B bis hin zu Thriller-Songs der 70er Jahre reicht. Können Sie uns mehr über die Rolle erzählen, die Sie der Musik in Ihren Filmen zuschreiben?


Die Idee für den Soundtrack entstand schon früh während des Schreibens des Drehbuchs, als ich den Text zu Jesus is my True Love schrieb, einer Version des brasilianischen Popsongs Sonho de Amor. Die Medusa-Kirche ist eine Pop-Kirche und will mehr Anhänger:innen gewinnen, was könnte also besser sein als ein eingängiger Titelsong?


Bei der Auswahl der Tonträger orientierte ich mich an meinem persönlichen Geschmack und an Liedern mit Texten und Rhythmen, die dazu beitragen, die Gefühle in den Szenen zu vermitteln, wie z. B. Cities in Dust (Siouxsie & The Banshees) und Uma Noite e 1/2 (Renato Rocketh) - ein unglaublich berühmter brasilianischer Pop-Rock-Song der Sängerin Marina Lima. Eine weitere Besonderheit des Soundtracks sind die Coverversionen, wie Wishing on a Star, aufgenommen von Mari Oliveira, und Baby It's You, das für den Film eine neue Version mit einer Kombination aus R&B und elektronischen Beats erhielt und von Nath Rodrigues gesungen wurde. Außerdem war es für mich wichtig, dass alle Lieder im Film von Frauen gesungen werden.


Die Begleitmusik wurde von Bernardo Uzeda komponiert - eine Zusammenarbeit, die bereits bei meinem ersten Kurzfilm begann - und war von John Carpenter, Tangerine Dream und Goblin beeinflusst.


Das Ende des Films ist beeindruckend. Könnten Sie uns, ohne zu spoilern, etwas über den kreativen Prozess und das Bedürfnis unserer Protagonistinnen nach einem Schrei erzählen? Ist es eine Art Allegorie auf das heutige Brasilien?


Im Laufe der Jahrhunderte wurden die mit dem Bild der Medusa verbundenen Symbole verändert und neu interpretiert. Im 20. Jahrhundert wurde sie zu einem Symbol der feministischen Bewegung und sogar zu einer Inspiration für Markenlogos wie das von Versace. Das Gesicht der Medusa, das zuvor als Symbol des Bösen, als etwas Obskures galt, wurde zum Sinnbild für die unterdrückte Wut der Frauen. Eine Wut, die die Gesellschaft auf vielerlei Weise zu unterdrücken versucht, aber wenn diese Wut an ihre Grenzen stößt, kann sie sich zu mehreren Schlangen ausbreiten, kann sie sich in etwas Mächtiges verwandeln. Das ist der Ausgangspunkt für das Gesicht der Medusa als Katalysator für Veränderungen. Ihr Bild - das im Laufe der Jahrhunderte durch die Kunst verbreitet wurde, wie in Caravaggios Medusa, und das in unserer Vorstellungswelt immer noch so präsent ist - wird mit der Wut assoziiert, die alle Frauen in sich tragen, als Ergebnis jahrhundertelanger Unterdrückung. Und diese Wut kann, wenn sie zum Vorschein kommt, ansteckend sein. Der Schrei und das verzerrte Gesicht beim Schreien sind ein Symbol für diese Wut, die sich der Welt entgegenstellt und in anderen Frauen Unterstützung findet.


Wie fühlt es sich an, wieder in Cannes bei der Directors' Fortnight zu sein, wo Ihr Kurzfilm bereits 2012 ausgewählt wurde?


Es ist ein alter Traum, der wahr geworden ist. Ich fühle mich durch die Einladung, Medusa bei der Directors' Fortnight vorzustellen, sehr geehrt. Nach so harten und verheerenden anderthalb Jahren für Brasilien und die Welt hoffe ich, dass dieser Film die Menschen zum Nachdenken anregt, aber auch zum Lachen, zur Spannung, zur Freude und ein bisschen zur Lust.


Dieses Interview wurde von Kinema 21 aus dem Englischen übersetzt und findet sich original im Presskit von BFF.


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